Reichlich Druckerschwärze und Tinte für einen Tatzelwurm

Das Wunder von Loch Ness im Haslital

Bitte lächeln. «Klick». Und da ist es schon passiert. Schwarz auf weiss. Der Meiringer-Tatzelwurm ist im Kasten – oder besser gesagt: Auf einem Foto verewigt. Der Tatzelwurm hat sich einen sehr idyllischen Ort für sein Porträt ausgesucht. Ein Ort, an dem sich die «junge Aare» durch Grotten, Mulden und steile Felshänge stürzt. Die Aareschlucht.

Schreckliches Fabelwesen in tierischer Gestalt

Kein Scherz: Wenn ein Tatzelwurm durch den Sand kriecht, wird der Sand unmittelbar zu Glas. Krass, was für eine Hitze dieser Wurm ausstrahlen muss. Ein ziemlich grosses Glühwürmchen. Er ist ja auch ein Verwandter von Drache und Lindwurm. Nennen wir ihn mal einen «Halbdrachen», der ein schlangenartigen Unterleib und prankenbesetzte Vorderbeine hat. Gruselig.

Ein Tatzelwurm entsteht wie ein Basilisk. Fans von Harry Potter kennen dieses Wesen nur allzu gut. Lord Voldemort ist zurück. Also wie jetzt? Ein Hahn legt ein schwarzes Ei in einen See. Dieses badet dann wortwörtlich in der Sonne und wird ausgebrütet. Et voila: Ein Tatzelwurm.

Drachen, Schlangen und Würmer kommen in zahlreichen Erzählungen vor. So auch in der griechischen Mythologie: Hier erschlägt Herkules gerade die nette Hydra. Captain Amerika hätte das nicht besser gekonnt.

Die Drachen sind auch im Mittelalter präsent. Hier erledigt der heilige Georg gerade den Bösewicht.

In der nordischen Mythologie kämpft Thor heldenhaft gegen die Midgardschlange. Erst danach nehmen ihn die Avengers auf.

Perseus darf dabei natürlich auch nicht fehlen. Heroisch verteidigt er Andromeda vor dem Seeungeheuer Ketos. Ganz schön romantisch.

 

Der Kampf zwischen Sigurd und Fafnir. Ein episches Duell.

Da sitzt er – auf einem Schatz voll Gold und wartet sehr wahrscheinlich auf Bilbo. Unser Smaug.

Dieser furchteinflössende «Wassersaurier» ist weltbekannt. Er lebt in Schottland. Genauer gesagt: in einem See mit dem bekannten Namen «Loch Ness».

Auch George R. R. Martin und später HBO lassen die Drachen in «Game of Thrones» (fast) real werden.

 

Der Drache in der Aareschlucht

Wenn ein «Halbdrache» gerade keine Lust hat, Feuer zu spucken oder über Berge zu fliegen und Schrecken zu verbreiten, lebt er versteckt im Wasser. Da bietet sich die Aareschlucht natürlich an.

Bis Anfang des 19. Jahrhunderts können die Wassermassen in der Aareschlucht ausschliesslich mit einem Boot überwunden werden. Mühsam. Nicht selten wird somit die Aareschlucht mit Dantes unterirdischem Todesfluss Acheron auf dem Charon unermüdlich rudert in Verbindung gebracht. Der ideale Ort also, um eine Legende um ein Wassermonster zu schüren.

Die Schlucht liegt zwischen den Orten Meiringen und Innertkirchen. Während Jahrhunderten wagt sich niemand in die Schlucht. Die Furcht vor dem Unbekannten ist schlicht zu gross. Wer weiss, was für Monster sich dort befinden...

Die Aareschlucht kann bis zu einem Meter eng werden.

Mit dem Aufkommen des Fremdenverkehrs in den Alpen im 20. Jahrhundert entscheidet die Gemeinde über dem Wasser Laufstege zu errichten. So eine Monsterhysterie kommt der Vermarktung auch nicht ungelegen.

 

 

Lang – und tief

1400 Meter lang und 200 Meter tief ist die Aareschlucht.

«Das geheimnisvolle Fabeltier der Alpenwelt zum ersten Mal fotografiert?»

Was für eine Sensation. Tatsächlich gelingt es 1935 einem russischen Fotografen mit Namen Balkin das Monster abzulichten. Unglaublich. Publiziert wird das Foto in der «Berliner Illustrirte Zeitung». Ganz Europa tobt.
Das ist er also. Der Meiringer Tatzelwurm. Sein Zuhause: die Aareschlucht. (in: «Berliner Illustrirte Zeitung», Nr. 17, April 1935)

Zweimal schickt die Redaktion der «Berliner Illustrirte Zeitung» Mitarbeiter ins Haslital

Tausend Reichsmark gibt es als Belohnung. Nicht schlecht. Jetzt muss einfach dieser verflixte Wurm noch gefunden werden. Wer dies schafft und den Tatzelwurm einem wissenschaftlichen Institut zur Untersuchung einliefert, bekommt den Jackpot. Ja dann mal los.

Einen grünen Tatzelwurm finden die Besucher heute ohne Probleme. Der ist zwar aus Holz, aber begrüsst am Eingang zur Aareschlucht freundlich alle Besucher. Eine schöne Erinnerung an die Legende.

Josef Viktor Widmann

In Richtung Ausgang wölbt sich eine Art Nische oder Grotte, aus dem Felsen gehauen. Sozusage auf Mass gemacht, um ein Wesen zu beherbergen, das diesen Ort symbolisiert.

JOSEF VIKTOR WIDMANN Autor, über die Aareschlucht

 

Razzia nach dem Tatzelwurm

«Die ungeheuere Propagandawirkung für das Berner Oberland ist einwandfrei festgestellt worden», schreibt «Der Bund» 1935 und macht damit auf die Monsterhysterie aufmerksam.

Einen ganzen Grimselsee von Tinte und Druckerschwärze verursacht dieser sagenumwobene Tatzelwurm bei seinem Gastspiel im Haslital

Er lässt den Berlinern einfach keine Ruhe. Bereits ein Jahr zuvor ist ein prähistorisches Ungeheuer in der Umgebung des Grimselsees gesichtet worden. Den Gerüchten wird aber keinerlei Glauben geschenkt. Die Cleverness des Fremdenverkehrsbüros soll dahintergesteckt haben. Keine Ahnung. Die Sache schläft aber sehr schnell wieder ein.

Da warten sie nun auf den Tatzelwurm. Vergebens. Der kommt nicht.

Das Haslital mit seinen anerkannten Naturschönheiten kann auf so zweifelhafte Reklame verzichten

Auch die NZZ nimmt sich diesem Thema an: «Das sich ein solches (Ungeheuer) nun ausgerechnet jetzt in der Nähe der als Sehenswürdigkeit ohnehin schon berühmten Aareschlucht lebend aufhalten soll, nachdem es letztes Jahr noch dem Fremdenverkehr auf der Grimsel dienstbar war, ist zwar etwas merkwürdig. Der Berliner Illustrirten scheint dies aber nicht aufgefallen zu sein», so der Seitenhieb der NZZ aus dem Jahr 1935 gegenüber den Berliner Kollegen.
Auch die Aareschlucht und der Verkehrsverein Meiringen und Umgebung distanzieren sich von allen Veröffentlichungen über das Auftauchen eines Tatzelwurms. Nichtsdestotrotz: Insgeheim lachen sie sich sicher ins Fäustchen. Die Aktion ist nämlich ein voller Erfolg.

Tja, ob das Foto wohl gefälscht ist? Das Preisgeld wurde nie vergeben. Das Tier lässt sich einfach nicht finden. Tatsache ist, dass der Film nicht vom Fotografen selbst entwickelt worden ist, sondern auf einem amtlichen Büro in Bern.

S.J. Blaupot ten Cates

Das gezeigte ‹Balkin›-Bild von 1935 halte ich für eine Zeitungsente, die der Berliner Fotograf den Meiringern aufbinden wollte. So etwas lässt sich leicht machen, wenn man alte Tatzelwurm-Zeichnungen zum Vorbild nimmt. Ich jedenfalls weiss seit jenem Morgen, was ein Tatzelwurm in Wirklichkeit ist. Aber die Menschheit glaubt lieber an ein Fabeltier als an den nüchternen Alltag.

S.J. BLAUPOT TEN CATES hat selber einen Tatzelwurm gesehen

Einheimischen Fotografen stellt sich der undankbare Wurm einfach nicht vor die Linse. Ob es ihn wirklich gibt?

Klar gibt es ihn. Der Tatzelwurm hat die Jahre überdauert - und zwar auf verführerische Art und Weise. Es gibt stichhaltigge Beweise in den Schaufenstern von Meiringen. Mit Schokolade überzogen und einer Marzipanzunge wartet er nur darauf, gefunden und verspeist zu werden.

Wer kann schon diesen kleinen Süss-Monstern widerstehen?

 

Der Tatzelwurm kann überall sein

Äusserst attraktiv sind sie auch dann, wenn endgültig der letzte Drache im Berner Oberland das Zeitliche gesegnet hat: Die Aareschlucht und Grimselwelt. Augen auf beim Wandern. Es gibt viel zu sehen.

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Aareschlucht
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Fotos: Jungfrau Region, Aareschlucht
Story: André Wellig
Herbst 2017

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Tel. +41 33 972 50 50
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